7 - Die Gnade der Hierarchie
Wie nur soll ich dem kompliziertesten Konstrukt der Menschheit, diesem funkelnden Edelstein aus Emotionen und vermeintlicher Logik, nämlich der Hierarchie und der durch sie verursachten Gnade gerecht werden? Ähnlich dem Gotte Mammon, dessen Allmacht ich schon weiter oben gepriesen habe, umfasst und bestimmt sie das gesamte Da- und Sosein des Menschen, von der Wiege bis zum Grabe. Und ist es nicht wirklich und wahrlich wunderbar, wie dieses künstliche Gebilde, das nur aus der Fantasie des Menschen stammt, seine Existenz, sein Vorwärtskommen (oder was er dafür hält) und sein Glück bestimmt? Wohl dem Manne oder der Frau, der früh die geballte Macht der Hierarchie erkennt und sein weiteres Leben darauf ausrichtet, die Hierarchie wird ihm ihre Gnade erweisen, wie allen, die ihr ohne lästiges Nachfragen dienen.
Stärker ist sie als alle Fakten, stärker als jedes Genie, das glaubt, ohne sie auszukommen, stärker als jede Freundschaft, die sie beiläufig beenden kann, wie sie nur will, stärker sogar manchmal als die Liebe, die einer geordneten Fortführung der Hierarchie und ihrer Gnade nur im Wege steht in ihrer unabsichtlichen Auflösung der Machtverhältnisse zwischen zumindest zwei Menschen. Niemand auf dieser Welt kommt ohne Hierarchie aus, sie transzendiert Nationalitäten und Rassen, Religionen und Systeme und sie ist es, die in Wahrheit alle Menschen gleichmacht, denn welch ein Unterschied besteht schon zwischen einem um Kredit buckelnden Bauern aus der Ukraine und seinem Pendant aus den USA, wenn beide die gleichen uralten Rituale der Unterwerfung unter die etablierte Ordnung vollziehen?
Ganz eigentlich liegt die Gnade der Hierarchie in der Erkenntnis ihrer Allumfassenheit. Vielleicht der Hauptzweck der Hierarchie, sicher aber ihre unmittelbarste Auswirkung ist die Verewigung ihrer Existenz bei gleichzeitig unendlichem Wachstum. Wie viel Genie ist darauf verwendet worden, immer neue überflüssige Posten zu schaffen, immer neue Geldausgaben zu ersinnen, damit auch im Folgejahr der Rubel rollt wie bisher? Dieses hervorstechendste Merkmal der Hierarchie, ihre Aufblähung bei gleichzeitig sinkender Effizienz ist nicht anderes als die Entsprechung unserer Realität, wo ein sich aufblähendes Weltall bei immer grösser werdender Entropie zu dem Zweck geschaffen scheint, den sich gleichermassen vergrößernden Hierarchien auch genügend Platz zu bieten, wir erkennen einen wahrhaft göttlichen Plan!
Gerechtigkeit steht an vorderster Front der Gnadengeschenke der Hierarchie, denn nicht nur ist es gleichgültig, ob ein beliebiges Mitglied der Hierarchie fähig ist, seinen Posten auszufüllen, sondern die Hierarchie in ihrer Gnade regt den menschlichen Geist zu ungeahnter Kreativität an, die darauf gerichtet ist, jegliche Effizienz zunichte zu machen und dadurch ein Arbeitsklima zu schaffen, das für den Langsamsten oft zu schnell erscheint und dadurch wahrlich demokratisch jeden gleichermaßen behindert. Einsicht in die Ohnmacht des einzelnen - was sind wir schon angesichts von Sonnenflecken, Steuerreformen oder Tsunamis mehr als arme, eingebildete Menschlein? - ist ein zweites Geschenk der Hierarchie, die damit auch die christliche Forderung nach Demut als wahre Tugend auf ihre Fahnen schreibt. Gleichheit: diese zentrale Forderung der französischen Revolution ist in jeder Hierarchie per definitionem verwirklicht, denn jeder, aber auch wirklich jeder ist gleich unzufrieden, sei er ganz oben oder ganz unten in welcher Hackordnung auch immer. Und ehrfürchtig erstaunt steht der Mensch vor dem wahren Wunder der Hierarchie, denn so unglaublich es auch erscheinen mag, so gibt es doch manchmal unerwarteter Weise Resultate, die mitunter sogar so beabsichtigt waren. Allerdings kann man nicht klar genug betonen, dass Ergebnisse eindeutig nicht der Zweck der Hierarchie sind, sondern im Normalfall zwar gleichgültig dankend entgegen genommen werden, aber auf Dauer den geordneten Ablauf des täglichen Lebens nur stören.
Und welch ein Leben das ist! Mit ständig bis aufs höchste geschärften Sinnen nimmt der Angehörige der Hierarchie seine Umwelt in sich auf, er ist sich immerzu der bis in kleinste Verästelungen reichenden Rangfolge seiner Mithierarchisten und natürlich seines Platzes in ihr bewusst. Jedes Niesen seines Chefs, jeder Fehltritt eines Gleichgestellten wird registriert, bewertet und abgelegt, der wache Geist des hierarchischen Menschen ist ein Beweis für die Nützlichkeit der Form. Dafür muss der aufstrebende Angestellte bei allen Wohltaten, die er erhält, auch seine Pflichten erfüllen, die darin bestehen, nach oben alles zu lecken und nach unten alles zu treten, was sich nicht wehren kann. Aber daran gewöhnt man sich schnell, wie jeder neue Tag millionenfach beweist, und es ist ein kleiner Preis, fast nur ein sportliches Ringen, den jedes Mitglied einer Hierarchie bezahlt. Wahre Kämpfer sind das, ebenbürtige Abbilder des Jägers und Sammlers aus der Frühzeit des Menschen, nur dass man eben keine Früchte sondern Beweise gegen jemand sammelt, dass man statt gegen einen Bären gegen seinen Vorgesetzten kämpft, den man so bald wie möglich ersetzen will. Und dort angekommen, auf dem Posten seines Vorgängers findet jedes Mitglied einer Hierarchie seine wahre Gnade, jedermann endet irgendwann auf einer Stelle, die ihn überfordert. Aber das ist kein Fehler, sondern Sinn und Zweck der Hierarchie, die endlich, endlich nach langer Anstrengung einem jeden zeigt, dass er überflüssig ist, dass er sich guten Gewissens im Glanz seiner ganz gewöhnlichen Unfähigkeit sonnen kann, dass er sich entspannen kann, dass er eins ist mit seinen Mitmenschen. Ist größeres Glück denkbar?